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Geschichten vom Arrenberg - 3. August 2021

Als der Bäcker keine Brötchen hatte …

Im Gespräch mit Arne Zocher über das Leben am Arrenberg im Wandel der letzten einhundert Jahre. Über seine Familie und den Beruf, in dem er in der vierten Generation die Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet.

Arne Zocher erinnert sich an seine Kindheit. An die Zeiten, als die „Arrenberger“ gegen die „Senefelder“ auf irgendeinem Hinterhof im staubigen Nachmittag bolzten und einem die Welt als genau dieses Fleckchen Erde erschien. In den Ferien ging es morgens aus dem Haus, und man durchstreifte mit seinen Freunden die Gegend, bis der Abend dämmerte. Für Arne Zocher war die Kindheit in seinem Viertel ein Abenteuer. Es war schön, genau dort und zu dieser Zeit aufzuwachsen, zu spielen und Unsinn anzustellen.

Zu Hause lauschte der Junge den spannenden Geschichten, die man sich in der Nachbarschaft und in seiner Familie weitergab und die er heute selbst erzählt. Es war eine Zeit, in der man aufmerksam zuhörte, weil die Welt noch nicht voller Ablenkungen war, weil die Kommunikation unter Menschen noch Verständigung hieß und mit Worten stattfand. Ende der 1970er Jahre lag der Arrenberg – im Vergleich zur großen Aufbruchstimmung des 19. Jahrhunderts, als sich von der Wupper aus die Industrialisierung ihren Raum suchte – in einer Art Dornröschenschlaf.

Prächtige Fabrikantenvillen, prosperierende Fabrikgebäude, Geschäfte und Wohnhäuser für Angestellte und Arbeiter waren in der Gründerzeit entstanden, von denen das Viertel heute noch erzählt. Mittendrin die 1863 feierlich eingeweihten „Städtischen Krankenanstalten“ nebst zugehöriger Irrenanstalt. Aus dem ländlichen Außenbezirk der bergischen Stadt Elberfeld, der Steinbecker und Arrenberger Rotte, war eine industriell geprägte Vorstadt gewachsen. In dieser historischen Kulisse sprach Anfang des 20. Jahrhunderts klar und deutlich der Jüngste von vier Brüdern bei seinem Vater vor und wollte den elterlichen Betrieb, die 1. Dampfschreinerei zu Elberfelde, verlassen. Es war Heinrich Zocher, Arne Zochers Urgroßvater, der den abenteuerlichen Entschluss gefasst hatte, Bestatter zu werden. Er verließ den erfolgreichen Betrieb, der zu diesem Zeitpunkt sämtliche Holzarbeiten in den Privathäusern und Fabriken von Friedrich Bayer erledigte und dadurch zu Wohlstand und Anerkennung kam. Am 5.5.1905 gründete Heinrich Zocher sein Bestattungsunternehmen, das von den nachfolgenden Generationen bis in die Gegenwart geführt wurde.

Heinrich Zocher bestattete diejenigen Wuppertaler, die der alteingesessenen Konkurrenz nicht lukrativ genug waren, aber natürlich trotzdem unter die Erde mussten. Dazu gehörten z.B. die Kinder aus dem Arbeitermilieu, deren Leben durch die hohe Sterblichkeitsrate eh nicht sonderlich viel wert schien. Für ihre Beisetzung konnten die Angehörigen nicht viel zahlen, da sie das knappe Geld selber für die einfachsten Dinge wie Kleidung und Essen benötigten. Mit dem Bezug der bis heute bestehenden Geschäftsräume in der Arrenberger Straße bewies der junge Unternehmer Geschick. Er erarbeitete sich einen vertrauensvollen Ruf und hatte das Glück, mit seinem Ladenlokal zwei Häuser näher am Krankenhaus zu liegen als der bereits ansässige Bestatter – im Fall der Fälle entschied oftmals der um wenige Meter kürzere Weg.

Respektvoll und diskret – aber deutlich – spricht der Mensch Arne Zocher über das Leben. Außergewöhnliche, einzigartige Schicksale offenbaren sich dem Bestatter im Kontakt mit den Hinterbliebenen, werden ihm anvertraut oder erschließen sich aus den Eindrücken der Lebensumstände. Dieses Gespür für Menschen und Bedürfnisse, die Auseinandersetzung mit Glauben und Philosophie haben Arnes Zochers weites Weltbild geprägt. „Letztendlich sind wir alle aus Sternenstaub! Und das ist doch eine wunderschöne Idee!“, erklärt Zocher lächelnd und spielt auf die Vorstellung an, dass unser Körper und das Leben auf der Erde aus den Elementen bestehen, die in Supernovae – den explodierenden Sternen – entstanden sind. So gesehen sind unsere Existenz und unser Ursprung zumindest für ein paar Millionen Jahre geklärt – das Leben jedes Einzelnen bleibt in sich ein Wunder. Ob und wie es nach dem Sterben weitergeht, bleibt natürlich auch für den Bestatter offen. Über den Tod weiß er – wie wahrscheinlich jeder andere Mensch – nichts! So ist es halt, wenn man lebendig ist.

Gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verloren viele Menschen ihr Leben und die Atmosphäre änderte sich gewaltig. Die große Wirtschaftseuphorie und das koloniale Weltmachtstreben des Industriezeitalters führten in den ersten Weltkrieg und in eine innenpolitische Instabilität, die im nationalsozialistischen Wahnsinn gipfelte. Zuerst verschwanden Menschen über Nacht, Juden und politische Feinde. Aus Freunden und Nachbarn wurden Fremde. Kälte und eine ungeheuerliche Zerrissenheit deformierten die Gesellschaft. Mit dem Krieg verschwanden die Männer. Man betrauerte die gefallenen Väter, Söhne und Brüder. In der Elberfelder Bombennacht vom 24. auf den 25. Juni 1943 drohte die komplette Zerstörung des Arrenbergs, der durch seine Nähe zum Bayer-Werk verloren schien. Es war schlicht dem Wetter zu verdanken, dass die Leuchtmarkierungen – sogenannte Christbäume – vom Winde Richtung Tannenbergstraße verweht wurden und die nachfolgenden britischen Flieger stattdessen große Teile der Südstadt und der Innenstadt ausradierten.

„Vom Hause Zocher in der Arrenberger Straße 7 stand nur noch die Fassade“, weiß Arne Zocher. Der wenige Familienschmuck war im Tresor zu einem Klumpen geschmolzen, sämtliche Papiere und Bargeld durch die enorme Hitze in Asche verwandelt. Die schweren Eichenbohlen für die Särge waren vom bombardierten Lager in der Steinbeck hunderte Meter bis zur Brillerstraße geflogen. Wer überlebte, hatte großes Glück gehabt. Der Aufbau dauerte viele Jahre – im Viertel und persönlich. Mit dem Kriegsende kamen auch die überlebenden Soldaten zurück. Wenige als Helden, wie einer, der mit einem LKW von der Front flüchtete, auf abenteuerlichem Weg dutzende zivile Flüchtlinge aufsammelte und plötzlich in der Straße stand, und andere als Verbrecher – anhand ihrer herausgeschnittenen oder -geschossenen Blutgruppentätowierung wurden sie als Mitglieder der SS -Totenkopfverbände und der Waffen-SS identifiziert.

Das Leben am Arrenberg erholte sich, und das Wirtschaftswunder begann – die Menschen richteten ihre ganze Kraft in die Zukunft. Bescheidenheit und Dankbarkeit zeigten sich in diesen Jahren auf unterschiedlichste Weise – erwähnt sei der Unternehmer, der die Glocke der Trinitatiskirche spendete, obwohl er selbst nie in die Kirche ging. Unweit von Zochers Elternhaus verschwand erst Anfang der 1980er Jahre durch Neubebauung der letzte Bombenkrater, nur Beulen in den Wäldern zeugen heute noch von dem, was einmal war. Und soweit man das sagen kann: Auch das Sterben normalisierte sich. Dem mörderischen Krieg mit Angst und Schrecken folgte der natürliche Tod und die Trauerfeier in großer Runde – mit Schnäpsen und Gelagen wurde der Verstorbenen gedacht.

In der Gegenwart werden Beerdigung und Trauerfeier sehr persönlich begangen. Der Abschied ist heute so individuell wie das einzelne Leben und deutlich persönlicher als zu früheren Zeiten. Sei es durch die Flussbestattung an einem Wunschort oder als Asche in einer Feuerwerksrakete – vieles ist möglich.

So wie am Arrenberg, der mit seinem Aufbruch wieder eine ganz alte Energie verströmt. Doch eines wird es nicht mehr geben: eine Aufregung wie damals, als der Strom ausfiel und der Bäcker keine Brötchen hatte. Diese Zeiten sind vorbei – dafür ist diese Welt heute viel zu schnell.
 

Text: Wolfgang Rosenbaum

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